Lichtspuren – Manuel Ströhlin, Galerie Nero, 2009

I. Was fällt als erstes auf, wenn man vor diesen Bildern steht? Was sehen wir? Wir sehen Farbe. Eigentlich nur Farbe. Aber wie sehen wir die Farbe, wie erleben wir sie? Ich möchte zwei typische Situationen beschreiben, wie ich sie immer wieder mit den Bildern Sabine Fernkorns erlebe.

– Ich stehe eine Weile vor einem Bild - wie erst vor einigen Wochen vor diesem hier mit dem Titel „Überschattung“. Es ist ein schöner Vormittag, und eine milde Sonne scheint durch das Fenster in den Raum. Allmählich freundet sich das Auge mit dem Bild an, wird sensibel für die Feinheiten der Farbe. Es tauchen Strukturen auf, die aus nichts anderem als Farbnuancen bestehen. Licht bricht scheinbar aus dem Bildhintergrund hervor, aus allen Richtungen, und zieht Bahnen über die Fläche.
Doch da ist auch das reale Licht, das Tageslicht, das sich minimal verändert – und ich bemerke diese subtile Lichtveränderung im Raum nur, indem ich auf das Bild schaue und sehe, wie mit einem Mal einzelne Partien hervortreten und andere sich zurückziehen. Das Licht dringt unterschiedlich tief in die Farbschichtungen ein, holt sich Tiefes daraus hervor und trägt das, was es in der Materie findet, mit sich an die Oberfläche.

– Eine andere Szene, ein Ausstellungsraum, an den Wänden Arbeiten Sabine Fernkorns: Ich sitze dort umgeben von den Bildern, die ich mir vorher angesehen habe, im Gespräch, während die Sonne kommt und geht. Auf einmal merke ich, dass mit einem der Bilder etwas geschieht und dass mich gerade dieses Bild, das mich bis dahin eher kühl gelassen hatte, plötzlich anzuziehen beginnt. Und indem nun dieses Bild, das bisher zu mir geschwiegen hatte, lauter zu sprechen beginnt, antworten auch die anderen Bilder neu auf dieses eine. Bisher verborgene Beziehungen werden sichtbar, die Kraftlinien zwischen den Bildern im Raum geraten in Bewegung, die Bilder beginnen, miteinander zu tanzen. Schließlich verlasse ich den Raum und denke mir, dass die Bilder darin weiter ihr eigenes Spiel mit dem Licht treiben werden und nur auf ein Auge warten, das daran teilnimmt.

In diesen kleinen Geschichten über die Wirkung der Bilder Sabine Fernkorns auf den Betrachter sind auch schon einige Stichworte genannt, die ihre malerische Arbeit akzentuieren. Rhythmik und Schichtung, das Wechselspiel zwischen malerischer Setzung und dem, was in Reaktion auf sie geschieht. Nie steht eine Vorstellung des Ergebnisses am Anfang; der Anfang ist Anfang, Anfang eines Prozesses mit unvorhersehbarem Verlauf und unbekanntem Ende.

Sabine Fernkorn nennt die Technik dieser Arbeiten gern „Acryl IN Leinwand“ – Obwohl jedes Bild sich aus vielen verschiedenen übereinanderlagernden Farbschichten aufbaut, türmt sich die Farbmaterie nicht krustig über der Leinwand auf, sie bildet darauf kein Relief, ja kaum eine eigene Textur aus, sondern eher einen leichten samtigen Glanz.
Unter diesem bleibt das Webmuster der Leinwand sichtbar, welche die stark verflüssigte Farbe vollständig aufsaugt. Die Gleichmäßigkeit der Bildoberfläche lässt die Veränderungen der Farbe wie ein gleichsam inneres Geschehen erscheinen, die Leinwand also wie eine transluzente Membran, welche einen lichten, dynamischen Farbraum einschließt.
An der Oberfläche selbst findet das Auge nichts, an dem es sich festhalten könnte. Die Haptik dieser Bilder ist rein visuell, sie beruht auf ihrer ungewöhnlichen Sensibilität für das Licht. Die bemalte Leinwand gleicht so der Haut, die sich im Licht verändert und gerade dadurch den Zustand des Organismus offenbart, den sie umspannt.

II. „LichtsPUREnMALEREI“ ist seit etwa 2003 der Arbeitstitel, unter den Sabine Fernkorn all ihre malerischen Erkundungen auf Leinwand und Papier stellt. Was sagt uns dieser Titel über die Bilder, die wir hier sehen?

Zum einen steckt in dem Wort „LichtsPUREnMALEREI“, von ihr auch bisweilen im Schriftbild hervorgehoben, die PURE MALEREI. Es handelt sich also um keine abbildliche Wiedergabe von etwas, das zuvor schon auf andere Weise gegeben und sichtbar wäre. Vielmehr macht die Malerei eine Wirklichkeit sichtbar, die nur auf diesem Wege zur Anschauung zu gelangen vermag.

Zum anderen hat es diese reine Malerei mit dem zu tun, was Sabine Fernkorn LICHTSPUREN nennt. Was bedeutet dieses Wort - LICHTSPUREN?

Ich möchte mich einer Antwort auf einem kleinen Umweg nähern, nämlich über ein kurzes Gedicht, das in dem zu dieser Austellung erschienen Katalog der Arbeit von Sabine Fernkorn als eine Art Motto vorangestellt werden wird. Es ist das Gedicht FLUENT von John O'Donohue

I would love to live
Like a River flows,
Carried by the surprise
of its own unfolding.

Gern würde ich leben,
wie ein Fluß fließt,
getragen von der Überraschung
seiner eigenen Entfaltung.

Dreierlei klingt hier an:

– A River flows. Wasser bahnt sich einen festen Weg, es fließt nicht überall und nirgends, sondern in dem Bett, das es sich gräbt. Nur so bildet es einen Fluß.

– The surprise of ist own unfolding. Es ist gleichwohl nicht festzuhalten, nirgendwo zu fixieren. Die feste Bahn ist die eines Fließens, und gelegentlich tritt der Fluß auch über seine Ufer, er führt andere Stoffe mit sich, die sich ablagern, anschwemmen, die Spuren bilden, Spuren des unaufhörlichen Fliessens.

– Carried: Das Überraschende, Nichtfixierbare, das Fließende des Flusses trägt seine Identität, bildet seine konkrete Gestalt aus, und doch bleibt die Identität des Flusses dauerhaft getragen durch das Fließen des Wassers. Ohne dieses Fließen trocknet das Flussbett aus, ist der Fluß tot und nur noch eine Erinnerung an das, was an diesem Ort einst lebte.

Ähnlich dem Flussbett ist das Bild eine feste, klar ummessene Gegebenheit, Leinwand auf einem Keilrahmen, darauf Acrylfarbe. Und ähnlich den vielen Sedimentschichten, welche mit der Zeit die Tiefen des Flußbettes überziehen, sind es auch hier viele Farbschichten, die im Laufe der Zeit eine nach und über der anderen das „Bild“ entstehen lassen, das wir letztlich vor uns haben.
Aber wenn das Bild dem Flussbett gleicht, was ist dann das, was im Bild FLIESST, das durch seine SELBSTENTFALTUNG stets neu ÜBERRASCHENDE?

III. Wasser, Licht, Farbe – diese Wörter teilen die Eigentümlichkeit, dass sie einerseits eine Einheit suggerieren. Andererseits aber auch eine unbegrenzte, stufenlose Teilbarkeit in kleine und kleinste Einheiten, eine Differenzierbarkeit in feinste Nuancen und Facetten, die uns schier unendlich anmutet.
Wir denken an eine Einheit, an einen großen Singular: DAS Wasser, DAS Licht, DIE Farbe. Und doch ist alles, was wir sehen und wahrnehmen immer nur ein bestimmter Aspekt, unter dem uns diese EINE Wirklichkeit begegnet.

Monet konnte immerzu diesen einen Teich mit den Seerosen malen, und doch gleicht keines dieser Bilder dem anderen. Es ist nie einfach derselbe Teich, immer ist es ein anderer, den er dort in diesem Garten sah und der uns im Wechselspiel von Wasser und Licht und Farben aus seinen Bildern entgegentritt. Es ist eine Reihe von Portraits dieses Seerosenteichs, jedes davon zeigt ihn uns in der Individualität eines einmaligen Anblicks, den er Monet an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Stunde bot, und keine davon ist wahrer als eine andere.

So ist es mit dem Wasser und mit dem Licht. Der Fluß ist nur in ständiger Bewegung er selbst, ohne Stillstand, nicht festzuhalten. Das Licht leuchtet uns immer in einem bestimmten Augenblick, in einer bestimmten Stimmung, einer bestimmten Tönung, und keine davon ist einfach DAS Licht, keine Farbe, die wir sehen, einfach DIE Farbe. Diese Wandelbarkeit und Beweglichkeit war und ist für die Aristoteliker unter den Philosophen und Kunsttheoretikern denn auch der Grund, dem Licht und der Farbe einen geringeren Rang einzuräumen als der klaren, der Veränderung in der Zeit enthobenen und insofern rein geistigen Form, der Linie. Für die Anhänger Platons hingegen zeigt sich gerade in der unendlichen Variabilität die Ursprünglichkeit des Lichts, das - selbst den Sinnen unzugänglich – die Vielfalt der Erscheinungen entspringen lässt.

Farbe aber ist das Licht, welches von den Oberflächen der Dinge - entsprechend ihrer jeweiligen molekularen Beschaffenheit - in unsere Augen zurückstrahlt. Farbe ist nichts an den Dingen, sondern ZWISCHEN uns und den Dingen, sie ist der Anblick, den uns die Dinge bieten, das Licht, in dem sie uns erscheinen und das sich selbst dabei an den Dingen bricht und deren Gestalt annimmt. Ohne Licht sehen wir nichts, doch auch die reine, farblose Helligkeit des Lichts sehen wir nicht, sie würde uns blenden, wir sind blind für sie.
Das Licht ist für uns nur sichtbar, indem es anderes sichtbar macht, es leuchtet, indem es auf die Dinge fällt, an ihnen aufscheint und sie uns zur Erscheinung bringt – angefangen von den Aerosolen der Luft bis zur Weite des Meeres und der Erdoberfläche. Dieses gebrochene und zurückgeworfene Licht ist Farbe.
Farbe ist so das Kind zweier Eltern, des Lichts und der Materie. Das Licht bricht sich an den Oberflächen, es zerbricht zu Farben, und aus seinen Splittern formt sich unser Bild der Wirklichkeit. Was das Licht uns hinterlässt, indem es zu Farbe wird, ist alles, was wir sehen, die sichtbare Welt. Die an einem Ding aufleuchtende Farbe, aus der dessen Gesicht uns anblickt, ist Spur des Lichts.

IV. LICHTSPUR – der Titel dieser Arbeiten – bezieht sich also nicht bloß auf einzelne Partien in den Bildern, etwa auf die sich dort immer wieder findenden, rhythmischen oder unregelmäßigen Aufhellungen, in denen tatsächlich ein unbestimmtes Licht aus dem Bildhintergrund/Bildinneren durch die Farbe auf der Leinwand zu schimmern scheint, wie die Sonne eine Wolkendecke durchdringt. LICHTSPUR meint nicht allein dieses besondere Bildlicht, so bestimmend es für die Bilder Sabine Fernkorns auch ist.
LICHTSPUR meint vielmehr, so scheint es mir, die Farbe selbst – die eine, unendlich vielgesichtige Farbe in den vielen Farben. Alles, was wir sehen.

Das Licht fließt, wie ein Fluß fließt. Kontinuum bedeutet jedoch nicht Gleichförmigkeit, nicht Gleichmäßigkeit, es schließt Rhythmus ein, einen Wechsel von Verdichtung und Auflockerung, von Steigerung und Verblassen, von Aufblühen und Erlöschen. Den Umschlag von einer Farbe in eine andere, den Kontrast gegenläufiger Strömungen.
Doch gibt es innerhalb der Bilder keine Unterschiede, keine Strukturen, die nicht solche der Farbe selbst sind, keine Form, die nicht aus der Entfaltung und Verdichtung der Farbe selbst heraus entstehen würde, aus der Öffnung der Oberfläche für jene Kraft also, die aus einem bloßen „Farbstoff“ die lebendige Farbe hervorbringt, die dann unser Auge anlockt und der wir im Bild immer wieder nachspüren: für das Licht.

So möchte ich zum Schluß Sabine Fernkorn selbst zu Wort kommen lassen, die kürzlich zu ihrer Arbeit folgendes sagte: „Ich male, seit ich denken kann. Und eigentlich male ich mein bisheriges Leben lang an einem einzigen inneren Bild, von dem ich nicht mit Worten sagen könnte, wie es aussieht, noch, worin genau es seinen Ursprung hat. (...)

In allen `Produktionen´, die ich auf diesem Weg hervorgebracht habe, so unterschiedlich sie dem Betrachter vielleicht erscheinen mögen, erkenne ich Facetten dieses großen inneren Bildes. Es ist so, als würde mal die eine, mal die andere Stelle dieses Bildes beleuchtet.
So gab es Phasen, in denen ich besonders um die Formfindung im Bild gerungen habe, dann wieder trat die Farbe als Thema ganz in den Vordergrund. (...)
Ein Grundthema der Malerei klingt jedoch in all meinen Arbeiten an, und das ist das Thema Licht.“

V. In der Kunst verbindet sich das Gefühl des Gelungenen wohl immer mit einem Eindruck zwangloser Notwendigkeit. Wir sehen ein Bild und wissen: Ohne sagen zu können warum, genau so, wie es ist, muß es sein. Kein Strich, kein Farbauftrag, keine Lasur mehr!
Besonders bei einer sich aus vielen Schichtungen aufbauenden Malerei bestimmt dieses bezwingende Gefühl grundloser Stimmigkeit für den Künstler selbst wohl den Moment, an dem er aufhört, den Punkt, an dem das Bild fertig ist.
Wie aber lässt sich dieses besondere Gefühl beschreiben, das mir sagt, dass die Malerei an ihr Ziel gelangt ist?

Vor den Bildern Sabine Fernkorns stehend möchte ich sagen: Es ist die Resonanz des großen inneren Bildes, in dem das Licht der Materie Farbe verleiht, Form - ein Gesicht. Das Bild, das ich sehe, schlägt einen Ton an, der in mir nachklingt und sich dabei mit anderen Bildern des Gefühls und der Erinnerung verwebt, die ich in mir trage.
Die Erfahrung dieser Resonanz weckt in mir jene Offenheit für die Veränderungen des Lichts, die ich als malerische Qualität des Bildes selbst wahrnehme. Dies ist der Moment, in dem das Bild für mich zu leben beginnt, in dem es mir als ein Anderes, ein Gegenüber begegnet – ein eigenes Gesicht zeigt. Der Moment, in dem zwischen mir und dem Bild etwas beginnen kann, was man – bei aller Vorsicht – eine persönliche Beziehung nennen kann, eine eigene Geschichte mit offenem Ausgang. So ist es – möglicherweise – für den Künstler, und so ist es auch für den Betrachter.
Ein Gesicht hat eine unübertrefflich präzise, einmalige Bestimmtheit, die Bestimmtheit einer Individualität. Doch die Bestimmtheit eines Gesichts erfassen wir nicht ein für allemal in einer Definition, einem Schema, wir erkennen ein Gesicht, indem wir mit ihm leben. Und je mehr wir uns dabei verändern – und damit auch das, was wir in diesem Gesicht erblicken -, desto mehr lernen wir es kennen.
Es gibt Bilder, die diese überraschende Fähigkeit besitzen, für den Betrachter ein Gesicht zu gewinnen. Seit einigen Jahren teile ich mein Leben mit zwei Bildern von Sabine Fernkorn, und ich habe nicht das Gefühl, dass ich mit ihnen schon am Ende wäre, und sie mit mir. Mehr kann man von einem Bild nicht erwarten.